Kritiken

„Statt seines Nachtgesangs präsentiert der MDR-Chor im Netz einen multimedialen „Gesang von ferner Nähe"

Neue Wege über neue Inseln – Philipp Ahmann und sein Chor des Mitteldeutschen Rundfunks machen aus der Not der Pandemie eine Tugend und erfinden die Chormusik gemeinsam mit Michael Langemann multimedial neu.

Und so probt Ahmann nun seit Monaten mit vier Chören – und selbst doppelt so oft wie sonst: mit Männern und Frauen, Gemischt eins und Gemischt zwei (…) hat er unermüdlich fürs Radio weiterproduziert – und en passant ein ziemlich einzigartiges Multi-media-Format entwickelt, das das Corona-Ausweichen von mit Auftrittsverbot belegten Musikern ins Netz nicht als Notlösung erscheinen lässt, sondern neue Wege erschließt.

Sie führen über die „Inseln“, den Ahmann für seinen Rundfunkchor bei Michael Langemann in Auftrag gegeben hat, „um das Unmögliche möglich zu machen: endlich einmal wieder mit dem großen Chor arbeiten, seine Stärken, Möglichkeiten, seine Klangschönheit ausloten zu können.“ (…) Ahmann und sein Chor haben die „Inseln“ einzeln eingesungen, in verschiedenen Gruppen, die erst im Nachhinein zusammengebaut werden zum „Gesang von ferner Nähe“. Der dauert 11 Minuten und 18 Sekunden und greift mit melancholischer Unentrinnbarkeit mit den ersten Tönen bereits nach der Seele. Schöne Musik, gut gebaute Musik, wahrhaftige Musik – und sensationell gut gesungene Musik. (…) hier hat der Sender vielleicht zum ersten Mal seine multimedialen Kompetenzen wirklich im Dienste der Kunst gebündelt und Langemanns so kluges wie sinnliches Werk multimedial auf eine höhere Stufe gehoben. (…) Dennoch empfiehlt es sich, die „Inseln“ so zu erkunden, wie der MDR-Pageflow es naheliegt: Man beginnt mit dem Gesamt-Atoll, besichtigt dann die Einzel-Eilande und hat dann die Ohren trainiert fürs erneute Große Ganze. Dazwischen gibt’s Erklärungen vom Komponisten und vom Chorchef, die dabei helfen zu verstehen, wie kunstvoll Langemann seine hochkomplexe Welt der Töne und Silben aus schlichten Bausteinen schichtet. Dabei entsteht dann beinahe unweigerlich die von Hölderlin in fiebrige Verse gepresste „Zornige Sehnsucht“ nach Konzerten im Allgemeinen und solchen mit großem Chor im Speziellen.“

Peter Korfmacher, Leipziger Volkszeitung, November 2020

 

 

 

 

„Michael Langemanns gut zehnminütiges Chorwerk „Inseln – Gesang von ferner Nähe“ ist als Auftragswerk des MDR-Rundfunkchors explizit für die Proben- und Aufführungsbedingungen in Pandemiezeiten entstanden. (…) Ein Wurf ist (…) zweifellos die Präsentation: Der Mitschnitt selbst aus der Leipziger Peterskirche ist schon hervorragend gefilmt, die Konzentration und das Aufeinander-Hören der Sänger*innen packend nachvollziehbar. Der endgültige Clou ist dann aber die multimediale Aufbereitung, die auf einer geschmeidig programmierten, intuitiv nutzbaren Webseite die abschnittsweise Einführung durch Chefdirigent Philipp Ahmann mit der Möglichkeit verbindet, sich zunächst die Aufnahmen der einzelnen Stimmgruppen und dann das Gesamtergebnis anzusehen und anzuhören. Besser kann man so etwas kaum machen – ein digitales Vermittlungsformat mit Zukunftspotenzial!“

Neue Musikzeitung (nmz), Unübersehbar #24 – nmz-Streaming-Empfehlungen vom 23.10. bis zum 29.10.2020, Juan Martin Koch

 

 

 

 

„INSELN – der MDR Rundfunkchor dokumentiert sein Innenleben

Der MDR-Rundfunkchor zeigt in einer Multimedia-Dokumentation eine Corona-Komposition. Was sperrig klingt, ist eine außergewöhnliche Öffnung, die sich der Isolation dieser Zeit zu widersetzen scheint, ohne sie schlicht zu ignorieren, meint unser Autor Nils Bühler.

(…) Es ist mal wieder so weit: Ich kann mich über eine Doku freuen. Zu verdanken habe ich das der Coronapandemie. Die Multimedia-Dokumentation „Inseln“ ist die Corona-Schöpfung des MDR-Rundfunkchors, der wie die meisten Kultureinrichtungen Lockdown-Zwangspausen erlebt. „Inseln“ sollte dem Chor ermöglichen, auch in Zeiten sozialer Distanz gemeinsam zu klingen und eine Uraufführung präsentieren zu können. Da der 72-köpfige Chor wegen Abstandsregeln nicht in leiblicher Kopräsenz singen kann, bleibt zum Zusammenklingen nur eine zeitlich versetzte Performance, die am Schluss zusammenmontiert wird. Das klingt bisher zugegebenermaßen nicht nach einem außergewöhnlichen Konzept – Tonschnitt gibt es schließlich schon seit vielen Jahrzehnten. Doch „Inseln“ ist mehr als eine Montage. Es versucht, das in der Pandemie veränderte Spannungsfeld von Nähe und Distanz zu thematisieren und macht dabei, wie ich finde, vieles richtig.

„Inseln“ ist im üblichen MDR-Multimedia-Dokumentationen-Stil aufgebaut: Die Homepage zeigt Video, Bild, Ton und Text, durch die man sich per Klick und Scrolling navigieren kann. (…) Für dieses Medium entwarf der Komponist Michael Langemann auch das zu „Inseln“ gehörige Werk. Es thematisiert sowohl die Gefühlswelt der Coronakrise – Isolation, Ängstlichkeit und Fixierung einerseits, Freundschaft und Mitgefühl andererseits – als auch die eigene performative und mediale Zerlegung. Die sich häufig wiederholenden, kaum verändernden Melodien spiegeln die beklemmenden Texte wider, die die eben genannte Gefühlswelt besprechen. Das erfährt man übrigens von Philipp Ahmann, dem Dirigenten des Stücks, von dem man sich mit klaren, nicht unnötig ausschweifenden Worten durch die Komposition führen lassen kann. Die Melodien durchwandern die Chorstimmen und bilden einen Klangteppich, dessen einzelne Elemente jedoch klar erkennbar sind – hier beschleicht einen das unangenehme Gefühl übergroßer Videokonferenzen.

„Inseln“ hat sechs Sätze. Zu jedem Satz kann man sich die einzelnen Stimmen getrennt anhören, um sie anschließend zusammengefügt als Ganzes zu genießen. Die Trennung von Stimmen ist in der Tontechnik wie gesagt nichts Neues – umso spannender ist es, eine Komposition zu erleben, die diese Trennung zu ihrem Kernthema macht. Jede Stimme ist ein Musikstück in sich, gemeinsam bilden sie etwas gänzlich Neues.

Das „Baukasten“-Konzept zieht sich durch die gesamte Multimedia-Doku. Auch die Bilder trennen den Chor auf und vereinzeln die Sänger*innen. Die visualisierte Trennung der einzelnen Stimmen wird durch eine schon fast unangenehme Nähe der Kamera verstärkt. Man ist den Sänger*innen sehr nah und trotzdem sehr fern und auch der Kontrast von warmer Beleuchtung und gähnender Leere in der Peterskirche in Leipzig, die als Spielort dient, unterliegt dieser Spannung. (…) Trotzdem lässt sich sagen, dass der MDR-Rundfunkchor mit „Inseln“ die Möglichkeiten des gewählten Mediums tatsächlich nutzt, statt „nur“ ein Konzert als Video-on-Demand zugänglich zu machen. Der für Laien oft verschlossen wirkende Block eines klassischen Ensembles wird geöffnet, das Zusammenspiel zwischen den Chorstimmen wird erfahrbar gemacht – trotz der nötigen Distanz. Gleichzeitig verliert „Inseln“ nicht den musikalischen Anspruch des Hauses und hat auch filmisch einiges zu bieten. All das zusammen wirkt als gut gelungene, musikalisch-filmische und (leicht) interaktive Metapher für eine Zeit, in der das Verhältnis von Nähe und Distanz verschoben ist.“

Von Nils Bühler, www.kultur-blog.de/, 15.12.2020